Geschichte

Das Museum ist ein Ortsbild von nationaler Bedeutung. Das ab 1827 entstandene Ensemble von Fabrik- und Nebengebäuden, Werkstatt, Fabrikantenvilla und Parkanlagen, Lager- und Ökonomiegebäuden, Kosthäusern und nicht zuletzt dem Viadukt der ehemaligen «Uerikon Bauma-Bahn» gibt authentischen Einblick in die Geschichte der Region, der Schweiz und weit darüber hinaus.

Im Neuthal erhalten Besucher und Besucherinnen einen Einblick in einen Industriebetrieb des 19. Jahrhunderts, wie diese damals im Zürcher Oberland wie Pilze aus dem Boden schossen und das zuvor landwirtschaftlich geprägte Leben umkrempelten. Vor Ort lässt sich erfahren, wie die Menschen damals gearbeitet und gelebt haben, und welche Bedeutung die Textilindustrie für die Schweiz hatte.

Industrialisierung

Landwirtschaft & Heimarbeit im Zürcher Oberland
Im 18. Jahrhundert war das Zürcher Oberland eines der führenden Gebiete in der Herstellung von Garn und Stoffen. In Heimarbeit wurde gesponnen, später auch gewoben. Von Zürich brachten Fergger das Rohmaterial den Oberländer Bauern zur Verarbeitung. Das Garn und die Stoffe gelangten durch die Fergger wieder nach Zürich und wurden dort verkauft. Der Erlös war ein wichtiger Zustupf für die Kleinbauern, die mit der Landwirtschaft allein ihre Familien kaum ernähren konnten.

Von der Heimarbeit zur Fabrikarbeit
Mit der Erfindung der Spinn- und Webmaschinen fielen diese Einkünfte weg; die Heimarbeiter mussten nun ihren Lebensunterhalt mit der Arbeit in der Fabrik bestreiten.

Das Zürcher Oberland – Zentrum der Textilindustrie
Im Zürcher Oberland entstanden innerhalb weniger Jahrzehnte dutzende von Textilfabriken, die von Wasserkraft angetrieben wurden. Und Wasser war reichlich vorhanden.

Eine von diesen Fabriken war die 1827 erbaute Spinnerei in Neuthal am Wissenbach, einem Zufluss der Töss.  

Geschichte des Neuthals

Mühle Müetschbach
Oberhalb des Fabrikareals steht es heute noch: das Gebäude der ehemaligen Mühle Müetschbach. Die Mühle wird 1379 zum ersten Mal erwähnt  und war damals im Besitz der Burgherren von Greifenberg. Ihr Wohnsitz ist ausgangs Bäretswil bis heute als Ruine erhalten geblieben. In den Nebenmühlen wurden eine Sägerei  und eine Stampfe, eine Reibe und eine Schleife betrieben. 1854, 27 Jahre nach dem Bau der Spinnerei wurde der Mühlenbetrieb eingestellt; das Haus diente fortan als Konsumladen, Wirtschaft und Bäckerei, als Kost- und heute als Wohnhaus.

Firmengründung im Neuthal
1825 erwarb die Winterthurer Baumwollhandelsfirma Geilinger & Blum die Mühle Müetschbach mit dem dazugehörigen Wasserrecht mit der Absicht, eine Spinnerei zu erstellen. Zwei Jahre später, bauten die neuen Besitzer mit Johann Rudolf Gujer, unterhalb der Mühle eine mechanische Spinnerei. Diese war der Grundstock, aus dem sich im Laufe der folgenden Jahrzehnte das Ensemble Neuthal mit seinen verschiedenen Gebäuden, Wasser- und Parkanlagen entwickelte. Das Ensemble ist in seiner Gesamtheit heute schweizweit einmalig.

Der Weiler Neuthal verdankt J.R. Gujer auch seinen Namen: Müetschbach fand er unpassend – Neuthal sollte er künftig heissen: Zeuge des Aufbruchs in eine neue Zeit!

Das Ende der Spinnerei Neuthal
Die Besitzerverhältnisse im Neuthal änderten sich mehrmals. Nachdem die Anlage 1930 an die Firma Hegner verkauft worden war, wurde 1936 die Spinnerei stillgelegt. Nach einer zwanzigjährigen Nutzung als Weberei wurde die Fabrik 1964 geschlossen und der Fabrikationsbetrieb eingestellt. Nach verschiedenen Handänderungen erwarb der Kanton Zürich das Fabrikgebäude sowie alle anderen Anlagen samt Turbinenturm am Wissenbach. Die Stiftung Suchttherapie Neuthal übernahm die die Villa mit Parkanlagen und Ökonomiegebäuden.

Adolf Guyer-Zeller (1839-1899)

Textilfabrikant…
Der Mann, der das Neuthal in seiner heutigen Form prägte, war Adolf Guyer-Zeller, Sohn des Erbauers Johann Rudolf Guyer. Schon als Achtzehnjähriger begab er sich nach Frankreich, um sich weiterzubilden. Auf weiteren Bildungsreisen, die ihn bis nach Ägypten, Griechenland und in die USA führten, interessierte er sich für die neuen Maschinen in der Textilbranche und betätigte sich auch als Einkäufer von Baumwolle für seinen Vater.

Zurück im Neuthal wurde er 1863 Geschäftspartner seines Vaters und heiratete die Stadtzürcherin und Fabrikantentochter Anna Wilhelmina Zeller. Nach dem Tod seines Vaters übernahm er 1876 die Baumwollspinnerei, die er bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1899 führte.

… und Eisenbahnkönig
Noch mehr als die Textilindustrie interessierte Adolf Guyer-Zeller die Eisenbahn. Ein Spekulationskauf von Aktien der kurz vor dem Konkurs stehenden Nordostbahn brachte ihn an die Spitze dieses Unternehmens. Er plante eine Eisenbahnlinie bis nach Konstantinopel, konnte sie aber nie realisieren.

Die Eisenbahnbrücke, die das Museum Neuthal überspannt, erinnert an den Bau seiner Üerikon-Bauma-Bahn, die das Tösstal mit dem Zürichsee verband. Sein grösstes und erfolgreichstes Projekt war der Bau der 1912 eingeweihten Jungraubahn, die heute alljährlich eine knappe Million Besucher die Gletscherwelt des Jungfraugebietes erleben lässt und Magnet des schweizerischen Tourismus schlechthin ist.  

Architektur

Spinnereigebäude
Nicht nur wegen de Museensareals ist das Fabrikgelände Neuthal einen Besuch wert. Faszinierend sind auch die romantischen Parkanlagen und die Architektur der verschiedenen Gebäude. Einige sind in Privatbesitz und können nur von aussen bewundert werden. Zentral ist das 1827 entstandene fünfstöckige Hauptgebäude. Mit einer streng geordneten Fensterfront, unterteilt durch einen Quergiebel, trägt es klassizistische Züge und steht für Zucht und Ordnung, die in der Fabrik herrschte. Die vielen Fenster brachten viel Licht in die Fabriksäle, so liessen sich künstliche Lichtquellen einsparen.

Villa
In der Fortsetzung der Hauptachse folgt dann das Fabrikantenwohnhaus mit dem Glockentürmchen. Ursprünglich einfach eingerichtet, erhielt das Haus durch den Umbau von Adolf Guyer-Zeller einen villa-ähnlichen Charakter. Besonders erwähnenswert ist ein im Neurenaissance-Stil ausgestattetes Repräsentationszimmer, das mit einer bemalten Kassettendecke, mit Sinnsprüchen über den Fenstern und schweren Vorhängen dekorierte „Gesellschaftszimmer“. Da es in Privatbesitz ist, kann es leider nicht besucht werden.

Nebenbauten
Gegenüber dem Fabrikgebäude steht das ehemalige Werkstattgebäude. Die hohen Spitzfenster und das Rosettenfenster in der Giebelfront erinnern an eine gotische Kapelle. Mit seinem Geschmack für historisierende Architektur wie hier der Neugotik war Adolf Guyer-Zeller ein Kind seiner Zeit. Dazu passen auch der Turbinenturm, der an einen mittelalterlichen Wehrturm erinnert, und die Terrasse über dem Transmissionsseil, die mit ihrem Geländer einen griechisch-römischen Touch erhielt.

Ebenfalls erwähnenswert sind die beiden Ökonomiegebäude im Anschluss an die Villa: Auffällig sind die mit Laubsägearbeiten fein verzierten Fassaden, entstanden in der Hausschreinerei in der „Kapelle“.

Parkanlage
Alle Gebäude sind verbunden durch zwei Parkanlagen. Den oberen Park ziert ein dreischaliger Springbrunnen, dahinter findet sich eine romantische Grotte. Ist der obere Park eher streng komponiert, hat der untere mit seinem Tempelchen, dem Weiher und den lauschigen Ecken eher etwas Verspieltes. In all diesen Anlagen spiegelt sich eine Charaktereigenschaft von Adolf Guyer-Zeller: Neben seiner der Technik und dem Fortschritt zugewandten Seite kommt hier sein Hang zur Romantik zum Zuge.